Leise surrt der Motor, Funkdurchsagen durchbrechen rauschend die Stille, rot leuchten die Ziffern des Taxameters: Ein Taxi ist der alte Wirkungsraum von Rajesh Varghese. Vier Jahre lang, von 2013 bis 2017, fuhr er seine Passagiere durch das nächtliche Krefeld. Vier Jahre, die den Grundstein dafür gelegt haben, dass der Mann indischer Herkunft heute ein erfolgreiches internationales Geschäft führt. Taxi fährt er nicht mehr: Aber immer noch bringt er Menschen, die fremd in Krefeld sind, sicher an ihr Ziel.
Das deutsche Kapitel der Lebensgeschichte Vargheses beginnt am Alexanderplatz. Hier packt er seine Koffer aus, als er 2009 in Krefeld ankommt, der Wahlheimat seiner Gattin Zimi. Die beiden spielten schon während ihrer Kindheit in Indien zusammen, verloren sich aus den Augen, trafen sich wieder, verliebten sich ineinander und entschieden schließlich, zu heiraten. Zimis und Rajeshs Familien verband immer der Wunsch, ihren Kindern ein gutes Leben zu bieten.
Zimis Eltern verließen deswegen bereits vor rund 45 Jahren Vellarada, eine Stadt im indischen Bundestaat Kerala an der Malabarküste im Südwesten des Landes, um auf eigene Faust als Pflegekräfte in Deutschland Fuß zu fassen. „Das war zur damaligen Zeit ein Bekenntnis zu einem besonderen Lebensweg. Indische Familien leben sehr traditionell. Kinder verlassen ihr Elternhaus erst mit der Hochzeit“, erklärt Varghese. „Als jüngster Sohn von drei Kindern wäre es in einem traditionellen Haus eigentlich meine Verpflichtung gewesen, bei meinen Eltern zu bleiben. Aber auch meine Eltern waren sehr bildungsbezogen und wünschten mir ein Leben in Deutschland. Zimi und ich passten also gut zusammen“, führt er aus und streicht dabei über den dünnen Schnurrbart, der von dem gewaltigen Oberlippenbart, den er in seinem Heimatland mit Stolz trug, noch übrig ist.
Die Ankunft in Deutschland ist für den jungen Inder zunächst ein Kulturschock: Während in Indien traditionell mit den Händen gegessen wird, nutzen die Deutschen Besteck; während der Anstand es in seiner Heimat gebietet, auf Höflichkeitsformen zu verzichten, gehören „bitte“ und „danke“ in Deutschland zum guten Ton; während Konsum auf dem indischen Subkontinent als Luxus gilt, ist er in Deutschland Alltag. Und während in Kerala, seinem Geburtsort, Malayalam gesprochen wird, sprechen die Menschen in Krefeld Deutsch und benutzen ein anderes Alphabet. „Hier anzukommen war für mich sehr schwierig“, schildert er. Es sind die Begegnungen mit seinen Fahrgästen im geschützten Raum des Taxis, die ihm die deutsche Kultur Stück für Stück näherbringen.
In Indien, so schildert Varghese, gibt es nur zwei Wege zu leben. Entweder man entscheidet sich für die Bildung oder aber man gibt sich der Armut hin. In seiner Heimat hatte er deshalb die Prüfung zum Ayurveda-Therapeut abgelegt, in einem Ashram seine Yogalehrer-Zertifizierung erlangt und zusätzlich eine Krankenpflegeausbildung absolviert. Er hofft, dass ihm diese Qualifikationen den Weg in Deutschland ebnen, doch die Bürokratie legt ihm Steine in den Weg. Es ist eine niederschmetternde Erfahrung für den jungen Mann, dass seine Ausbildungen in Deutschland nichts wert sind. „Meine Zeugnisse wurden hier nicht anerkannt“, erinnert er sich. „Nur für Vertretungsjobs, etwa als Yogalehrer im Alexianer Krankenhaus, hat es gereicht.“ Weil Varghese ehrgeizig und fleißig ist, so, wie es ihm seine Eltern und seine Kultur beigebracht haben, überlegt er, seine Ausbildung in Deutschland zu wiederholen, aber dann kommen seine Kinder auf die Welt. Robin Jill und Roshan Joy sind wahre Geschenke für den damals 31-Jährigen. Sein Blick auf Deutschland verändert sich. „Ein Kind in Deutschland großzuziehen, ist eine Ehre. Unseren Kindern können wir hier so viel bieten“, beschreibt er. „Aber gleichzeitig möchte ich ihnen auch die indischen Werte vermitteln, ihnen die Armut zeigen. Nur so lernen sie, unser Leben hier zu schätzen.“ Der Spagat zwischen Deutschland und Indien ist für das Wertesystem des Christen prägend: Varghese, der die Armut aus seiner Heimat kennt, weiß die Absicherung des deutschen Sozialsystems demütig zu schätzen. Er ist strebsam und dankbar für die Möglichkeiten, die ihm hier offenstehen, dafür dass er fast alles erreichen kann, während die Familienzugehörigkeit in Indien den Bildungsweg maßgeblich bestimmt. Aber seine Sehnsucht nach „Mama und Papa“, wie er seine Eltern liebevoll noch nennt, wird mit jedem Jahr größer: In Indien wohnen die Generationen zusammen, sie passen aufeinander auf und die Eltern werden von den eigenen Kindern gepflegt, wenn sie alt sind. In Deutschland leben die Familien verstreut, es gibt Altenheime und Pflegedienste.
„Wissen Sie, dass ich einmal in ein brennendes Haus gelaufen bin?“, fragt Varghese überraschend. 2016 hört er über Funk, dass am Frankenring ein Haus in Flammen steht, und weil er noch vor der Feuerwehr eintrifft, läuft er kurzerhand in das brennende Mehrfamilienhaus und klopft mit all seiner Kraft an die unterschiedlichen Wohnungstüren. 23 Bewohner verdanken auch dem Einsatz des jungen Mannes ihr Leben. Varghese möchte helfen, wenn Hilfe gebraucht wird. Das liegt in seiner Natur, auch wenn der bescheidene Mann das nie zugeben würde. Und diese Hilfsbereitschaft ist es auch, die ihn die Weichen für einen neuen Lebensweg stellen lässt. Als der Zugezogene begreift, wie schwer es für Migranten ist, in Deutschland Fuß zu fassen, eröffnet er 2017 das Büro „EU Academics Consultancy & Services“, das anderen Indern, vor allem medizinischen Fachkräften, den Sprung nach Deutschland erleichtern soll. „Durch meine Schwiegereltern und auch durch meinen eigenen Bezug zur Medizin habe ich in Deutschland viele Freunde im Gesundheitswesen, die immer wieder über den Fachkräftemangel klagen“, erklärt er. „In Indien gibt es so viele gute Menschen, die nur darauf warten, hierher zu kommen. Das war mein Startschuss.“
Varghese weiß um die Kompetenz seiner Landsleute: Inder sind strebsam und mitfühlend im Kontakt mit Alten und Kranken und, da ist sich Varghese sicher, ein Gewinn für den deutschen Arbeitsmarkt. Aber aus eigener Erfahrung weiß er auch, was es bedeutet, die deutsche Sprache zu lernen, Zeugnisse anerkennen zu lassen und ohne Kenntnis von der deutschen Kultur eine Stelle zu bekommen. Also knüpft er Kontakte zu Krankenhäusern und Altenheimen, mietet in Krefeld, Düsseldorf und Köln Wohnungen für junge Inder und schafft ein Fortbildungskonzept, das seine Schüler bestmöglich auf die Tätigkeit im deutschen Gesundheitssystem vorbereitet. „In einer Einheit lernen sie zum Beispiel, wie Pflegekräfte in Deutschland Patienten umbetten“, erklärt Varghese, „oder die medizinischen Fachbegriffe auf Deutsch.“ Es ist der eigene, kulturell begründete Anspruch, der Varghese zu Hochform auflaufen lässt, aber auch seinen Bewerbern viel abverlangt. Empfiehlt er einen Mitarbeiter, legt er seine Hand für ihn ins Feuer. Und dieses Risiko geht er nur ein, wenn er seine indischen Schützlinge bestmöglich auf Deutschland vorbereiten kann.
Nur eines kann er ihnen nicht abnehmen: den selbstverantwortlichen Umgang mit der deutschen Freiheit. „In Indien wird dir in deinem Leben viel vorgegeben. Dein Lebensweg ist abhängig davon, wo du geboren wirst, wer dich fördert und wie deine Familienverhältnisse sind“, beschreibt Varghese. „Und dann kommst du nach Deutschland und kannst auf einmal nach den Sternen greifen. Du lernst, dass du alles schaffen kannst, dass es ein System gibt, das dir hilft. Diese Freiheit ist Fluch und Segen zugleich.“ Denn wer nicht aufpasst, so ist Varghese überzeugt, geht darin verloren. Mehr als 100 Inder hat er inzwischen bereits nach Deutschland geholt und wirkt mit seiner Vermittlungsagentur für medizinische Fachkräfte nicht nur in seinem Heimatland, sondern ermöglicht auch immer wieder indischen Menschen aus Italien, aus Israel oder aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, sich in Deutschland niederzulassen. Die EU Academics beinhaltet inzwischen auch eine eigene Sprachschule, die schwerpunktmäßig Online-Deutschunterricht anbietet.
Sein Taxi hat Varghese bereits vor einigen Jahren abgestellt, aber es gibt immer wieder Momente, in denen er sich in seinen Schutzraum zurücksehnt. Dann kribbelt es in den Fingern und er möchte sich auf eine weitere, nächtliche Fahrt begeben, all das, was er von Deutschland noch lernen kann, aufsaugen und gleichzeitig seine eigene Geschichte erzählen. Er denkt dann auch an die beiden sinnbildlichen Koffer, die er jahrelang im Kofferraum seines Bewusstseins mit sich führte und deren Gewicht er noch manchmal spürt. Der eine Koffer ist gefüllt mit dem Gewicht der Dankbarkeit für die vielen Chancen, die Deutschland ihm geboten hat. Im anderen steckt das Gefühl der Zerrissenheit zwischen zwei Ländern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Seine Stärke, diese beiden Gewichte zu tragen, macht seine Lebensgeschichte so außergewöhnlich.
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